Schaltkreis in der Petrischale
Die Mechanismen der Entwicklung und der Funktionen des menschlichen Gehirns exakt zu verstehen ist eine hochkomplexe Angelegenheit. | © Fotos: Institute of Industrial Science, The University of Tokyo

Schaltkreis in der Petrischale

Erstmals ist es gelungen, im Labor gezüchtete Hirnzellen kontrolliert miteinander zu verschalten und so das komplizierte Neuronengeflecht des Gehirns nachzuahmen.

2. Mai 2024 | von Thorsten Naeser

Die Vorstellung, ein funktionierendes, menschliches Gehirn-Gewebe in einer Petrischale zu züchten, klingt ziemlich utopisch. Doch man sollte niemals nie sagen. Ein japanisch-französisches Forscherteam um Dr. Tatsuya Osaki hat nun tatsächlich eine Technik entwickelt, mit der man im Labor gezüchtetes hirnähnliches Gewebe so verbinden kann, dass es den Schaltkreisen in unserem Gehirn ähnelt. Als Bausteine für dieses Mini-Netzwerk nutzte das Team neuronale Organoide: experimentelles Modellgewebe, in dem menschliche Stammzellen zu dreidimensionalen, hirnähnlichen Strukturen herangezüchtet wurden.

Die Mechanismen der Entwicklung und der Funktionen des menschlichen Gehirns exakt zu verstehen ist eine hochkomplexe Angelegenheit. Tierversuche eignen sich dafür nur bedingt, denn es gibt viele Unterschiede zwischen den Arten in Bezug auf Gehirnstruktur. Im Labor gezüchtete Gehirnzellen weisen nicht die charakteristischen Verbindungen auf wie die Zellen des menschlichen Gehirns. Doch gerade diese interregionalen Verbindungen und die von ihnen geschaffenen Schaltkreise sind für viele Gehirnfunktionen, die uns als Menschen ausmachen, essentiell.

Eine große Hürde zum besseren Verständnis dieser interregionalen Gehirnzellen haben nun Forschende um Dr. Tatsuya Osaki von der Universität Tokio genommen. Zusammen mit französischen Kollegen ist es ihnen erstmals gelungen, im Labor gezüchtete Hirnzellen kontrolliert miteinander zu verschalten und so das komplizierte Neuronengeflecht des Gehirns nachzuahmen.

Bereits in früheren Studien erzeugten die Forscher Hirnschaltkreise unter Laborbedingungen. Als Bausteine für das Geflecht nutzte das Team so genannte neuronale Organoide. Das sind neuartige, dreidimensionale Zellkulturen in denen menschliche Stammzellen zu dreidimensionalen, hirnähnlichen Strukturen herangezüchtet werden. Die Verbindungen zwischen den Organoiden schufen Osaki und seine Kollegen, indem sie deren Axone miteinander verknüpften. Axone sind die langen, schmalen Zellfortsätze, mit denen Nervenzellen in Kontakt zu ihren Nachbarn stehen. Durch die Verknüpfung der Axone entstanden über 100 Mikrometer dicke Axonalbündel zwischen den Hirnzellen.

Die Mikroskopaufnahme zeigt diese Bündel als verbindende Stränge zwischen den kugeligen Zellkörpern.

In einzelnen neuralen Organoiden, die unter Laborbedingungen gezüchtet wurden, zeigten die Zellen eine relativ einfache elektrische Aktivität. Als die Forscher nun jedoch zwei neuronale Organoide mit axonalen Bündeln verbanden, beobachteten sie, wie diese Verbindungen dazu beitrugen, Aktivitätsmuster zwischen den Organoiden zu erzeugen und zu synchronisieren, was eine Ähnlichkeit mit Verbindungen zwischen zwei Regionen im Gehirn aufweist.

Die Gehirnorganoide, die mit Axonalbündeln verbunden wurden, zeigten komplexere Aktivitäten als einzelne Organoide. Als das Team die Axonalbündel optogenetisch, also mit Licht, stimulierte, veränderte sich die Aktivität der Organoide. Sie wurden durch diese Veränderungen für einige Zeit beeinflusst. Ein Prozess, der als Plastizität bezeichnet wird.

„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Verbindungen von Axonalbündeln für die Entwicklung komplexer Netzwerke wichtig sind“, erklärt Yoshiho Ikeuchi, Hauptautor der Studie. „Komplexe Gehirnnetzwerke sind für viele tiefgreifende Funktionen wie Sprache, Aufmerksamkeit und Emotionen verantwortlich“.

Die Möglichkeit, im Labor gezüchtete menschliche neuronale Schaltkreise zu untersuchen, wird unser Wissen darüber verbessern, wie sich diese Netzwerke bilden und in verschiedenen Situationen verändern. Es kann zu besseren Behandlungen von Gehirn-Erkrankungen führen“, sind sich die Forscher sicher.

Originalpublikation:

Osaki, T., Duenki, T., Chow, S.Y.A. et al.

Complex activity and short-term plasticity of human cerebral organoids reciprocally connected with axons. Nat Commun 15, 2945 (2024). doi.org/10.1038/s41467-024-46787-7

Nature, 10 April 2024

DOI: doi.org/10.1038/s41467-024-46787-7