Lebende Mini-Fabriken
ir leben in einem Dilemma. Die Ressourcen unseres Planeten Erde sind begrenzt. Doch der Hunger der Menschen nach Rohstoffen ist nach wie vor ungebremst und unersättlich. Was tun? Um nicht-nachhaltige Methoden zur Gewinnung von Materialien durch umweltfreundlichere Alternativen zu ersetzen, könnten Mikroorganismen zur Herstellung eines Sortiments einzigartiger Materialien, wie Zellulose, Seide oder Mineralien, dienen. Die Forschergruppe um André Studart, Professor für komplexe Materialien an der ETH Zürich, hat nun einen neuen Ansatz in dieser Richtung vorgestellt. Durch gezielte Beschleunigung von Evolutionsprozessen mittels UV-Licht haben die Biotechnologen einen Weg gefunden, Bakterien in lebende Minifabriken zu verwandeln. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift PNAS veröffentlicht.
Mit dem Klimawandel ist die nachhaltige Produktion von Materialien wichtiger denn je. Im Gegensatz zu den energieintensiven Prozessen, die zur Herstellung der meisten synthetischen Materialien verwendet werden, werden einige Materialien wie Zellulose, Seide oder Mineralien von Mikroorganismen in Wasser und bei Umgebungstemperatur auf natürliche Weise produziert. Dies dauert jedoch lange und ist für industrielle Mengen zu gering. Daher werden die meisten Rohstoffe, die wir verwenden, auf eine nicht sehr umweltfreundliche Weise abgebaut. Ein prominentes Beispiel ist die Zellulosefolie, auch bekannt als Cellophan. Diese wird hauptsächlich aus Zellulose hergestellt, die aus Zellstoff gewonnen wird.
Die neue Technik des Teams um André Studart bietet nun eine Möglichkeit, die organische Herstellung des Zellulose produzierenden Bakteriums Komagataeibacter sucrofermentans zu steigern. „Wir haben versucht, die Evolution dieses Bakteriums im Labor zu beschleunigen. Das Ergebnis ist, dass wir sie als Mini-Fabriken verwenden können und genügend von ihnen haben, um das Material nachhaltig zu produzieren“, sagt Julie Laurent, Erstautorin der Studie und Doktorandin in Studarts Gruppe.
Bakterielle Zellulose im nassen Zustand. Bild: Peter Rüegg / ETH Zürich
Um diese Minifabriken zu erschaffen, bestrahlte Julie Laurent die Mikroorganismen mit UV-C-Licht, um einen Teil der DNA der Zellen zu schädigen. Anschließend brachte sie die Zellen in einen dunklen Raum, um Mutationen zu erzwingen. „Da viele der DNA-Reparaturmechanismen der Zellen lichtabhängig sind, funktionieren sie nicht, wenn man sie in die Dunkelheit stellt. Die Zellen geraten in Stress und mutieren.“, erklärt Julie. Mit anderen Worten: Die Bakterienzellen werden unter Stress gesetzt, so dass sie gezwungen sind, sich anzupassen und unter extremen Bedingungen zu mutieren, was die natürliche Evolution nachahmt. „Wir haben uns für UV-C-Licht entschieden haben, weil es eine einfache und universelle Methode ist“, sagt Julie. „Wenn man auf das gesamte Genom abzielt, gibt es Millionen und Abermillionen Möglichkeiten der Mutation. Man kann es mit jedem Mikroorganismus machen, ohne das Genom zu kennen.“
Nach der Mutation der Bakterienzellen entsteht eine Bibliothek mit verschiedenen Mutanten, ähnlich einer gemischten Tüte von Gummibärchen. Um die einzelnen Zellen zu untersuchen, wurde jede einzelne in einen winzigen Tropfen Nährlösung und einen speziellen Farbstoff eingekapselt, der sich an die Zellulose anheftet. Nach einer Inkubationszeit, in der die Zelle wachsen und Zellulose produzieren kann, werden sie durch ein Screening-Verfahren geleitet. Durch ein elektrisches Feld trennt man die Zellen, die mehr produzieren als andere. Die überproduzierenden Zellen erkennt man, weil sie stärker „leuchten“ als die anderen. „Wir haben 40.000 einzelne Bakterien analysiert und 500 ausgewählt und schließlich nur fünf tatsächlich verwendet“, erläutert Julie.
Die fünf Varianten wurden genutzt, um zu analysieren, welche Gene durch das UV-C-Licht verändert worden waren und wie diese Veränderungen zur Überproduktion von Zellulose führen. Von den fünf ausgewählten Bakterien wiesen vier eine Überproduktion von Zellulose auf. Diese Produzenten wiesen die gleiche Mutation in demselben Gen auf, so dass die Forscher vermuten, dass dieses Gen an der Regulierung der Zelluloseherstellung beteiligt sein könnte. Dies ist ein bedeutender Fortschritt im Verständnis, wie Bakterien organische Materialien erzeugen.
Jetzt untersucht Julie Laurent die Eigenschaften der Zellulose, um festzustellen, ob die vom ursprünglichen Stamm und die von der Mutation produzierte Zellulose die gleichen Eigenschaften haben. Die Forscher glauben, dass die vielversprechenden Ergebnisse der Studie in Zukunft auch für andere Mikroorganismen genutzt werden könnten.
Die Minifabriken stellen einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur nachhaltigen Produktion von Materialien dar und könnten einen Meilenstein auf diesem Gebiet bilden, schreiben die Forscher. Sie stellen sich eine Zukunft vor, in der verschiedene interdisziplinäre Ansätze zusammenkommen, um Materialien auf nachhaltige und umweltfreundliche Weise zu entwickeln, natürlich mit den lebenden Minifabriken als einer davon.
Originalpublikation:
Laurent JM, Jain A, Kan A, Steinacher M, Enrriquez Casimiro N, Stavrakis S, deMello AJ, Studart AR.
Directed evolution of material-producing microorganisms
Proc Natl Acad Sci, 23 Jul 2024
doi.org/10.1073/pnas.2403585121