Higgs Boson Blues
Eine obskure musikalische Pilgerfahrt zum Genfer CERN
ine obskure musikalische Pilgerfahrt zum Genfer CERN
Die meisten Songs handeln von Liebe oder Herzschmerz, darüber eine gute Zeit zu haben oder aber von den Irrungen und Wirrungen des Lebens. Physikalische Elementarteilchen werden dagegen äußerst selten besungen. Nichts so bei “Nick Cave and the Bad Seeds“. Der gebürtige Australier und singende Kult-Poet veröffentlichte 2013 mit seiner Band den “Higgs Boson Blues“ und setzte damit dem auch als „Gottesteilchen“ weit über die Grenzen der Physik medial bekannt gewordenen subatomaren Partikel sein eigenes musikalisches Denkmal. Dass die im Text erzeugten Bilder, die eine Pilgerfahrt zum Genfer CERN nahelegen, in sich genauso komplex erscheinen, wie für den Laien das physikalische Verständnis rund um das Higgs Boson, ist wohl Teil des poetischen Konzepts. Letztlich geht es um die Suche nach Erkenntnis und Wahrheit und den Sinn des Lebens, eingebettet in zeitgemäße Metaphern.
Hier geht es zum Song mit Video:
Nick Cave and the Bad Seeds: Higgs Boson Blues
“Have you heard about the Higgs Boson Blues?” lautet eine Textzeile im gleichnamigen Song von “Nick Cave and the Bad Seeds“, der allein schon aufgrund seiner Länge von über 9 Minuten wenig radiotauglich erscheint. Bis zur Veröffentlichung 2013 auf dem Album “Push the Sky Away“ konnte diese rhetorisch anmutende Frage wohl mit einem klaren „Nein“ beantwortet werden. Aktuell ist das bald 10 Jahre alte Lied fester Bestandteil im derzeitigen Liveprogramm, das Cave Nick und seine Band in diesem Sommer in 32 Stationen rund durch Europa führt und zigtausende Liebhaber seiner Musik begeistert. Doch worum geht bei dem Blues, der ja bekanntlich nicht nur eine Musikrichtung ist, sondern zugleich auch ein tief empfundenes melancholisches Lebensgefühl?
Das “Higgs Boson“ oder auch „Higgs-Teilchen“ ist ein nach dem 1929 geborenen, britischen Physiker Peter Higgs benanntes Elementarteilchen, welches sich dadurch auszeichnet, dass es sehr massereich, elektrisch neutral ist, als einziges Teilchen keinen Spin hat und schon nach kürzester Zeit zerfällt. Das Higgs Boson ist dem „Higgs-Mechanismus“ zuzurechnen, einem theoretischen Modell aus den 1960er Jahren, das besagt, dass alle Elementarteilchen, so z.B. auch Elektronen, außer dem Higgs Boson ihre Masse erst durch die Wechselwirkung mit dem „Higgs-Feld“ erhalten. Die experimentelle Bestätigung dieser theoretischen Annahme hat aufgrund der technischen und physikalischen Anforderungen lange auf sich warten lassen. Jedoch gelang 2012 im “Large Hadron Collider“, dem Teilchenbeschleuniger am Europäischen Kernforschungszentrum „CERN“ bei Genf, der prinzipielle Nachweis zur Existenz des Higgs-Teilchens, wofür der Physiker im gleichen Jahr mit dem Nobelpreis geehrt wurde. Medial machte die Entdeckung weit über die Grenzen der Physik Furore, da man das Higgs Boson aufgrund seiner physikalischen Eigenschaften von da an auch als „Gottesteilchen“ bezeichnete. Diese Namensgebung rührt daher, da das Higgs Boson allen anderen Teilchen ihre Masse verleiht und dadurch überhaupt erst das Universum, wie wir es kennen, entstehen konnte. Es ist gewissermaßen die Initialzündung für alles, die Entstehung aus dem Nichts, die bislang Gottes Fingerzeig vorbehalten war.
Insofern kann das Higgs Boson auch als neuzeitliche Metapher für Erkenntnis und Wahrheit, die Entstehung des Universums, kurzum auch in einem spirituellen Sinne als Gottes Elementarbaustein verstanden werden.
In Nick Caves´ Blues befindet sich der Protagonist auf einer Art Pilgerreise nach Genf, jenem Ort wo, ähnlich wie im bekannten französischen Wallfahrtsort Lourdes, sich ein Wunder der Offenbarung ereignet hat. Wohl angetrieben von der faustschen Begierde, zu „wissen was die Welt, im Innersten zusammenhält“, beginnt so eine lange Reise in sengender Hitze, auf der allerlei Tagträume und Bilder vor dem geistigen Auge entstehen. Immer wieder wird auf der einen Seite das Alltägliche und die Sorglosigkeit eines oberflächlichen Lebens ohne Not nach Erkenntnisgewinn beschrieben. Doch die Schilderungen von beispielsweise jungen Mädchen und Frauen, die in der Blüte ihrer Schönheit selbstfokusiert und arglos umherflanieren, kontrastieren variantenreich mit den Schattenseiten des Lebens, wie Trauer, Tod und Krankheit. Man mag sich beim Lesen und Hören dieser Zeilen an die biblische Vertreibung aus dem Paradies erinnert fühlen, nachdem Adam und Eva von der verbotenen Frucht am Baum der Erkenntnis genascht hatten und plötzlich gewahr wurden, dass das Leben nicht nur Sonnen- sondern auch Schattenseiten bereithält. Immer wieder werden im Song die zwei Seiten einer Medaille besungen: Missionare, die vermeintlich spirituell Gutes tun wollten und doch mit der damals in fernen Ländern unbekannten Grippe letztlich den zu Bekehrenden Tod und Krankheit brachten. Eine weitere neuzeitliche Metapher für eine konstruierte und die Wirklichkeit ausblendende heile Welt ist die Nennung der zum Zeitpunkt der Entstehung des Songs aktuellen Disney-Kinderserie “Hannah Montana“, deren Darstellerin Miley Cyrus im Lied einen fiktiven, nicht näher nachgezeichneten Tod im Swimmingpool ihres Anwesens erleidet, als letztlich traurige Schattenseite ihres frühen Ruhms. Und mittendrin begegnet man der Blueslegende Robert Johnson, über den man sich die Anekdote erzählt, er stünde aufgrund seines virtuosen Ausnahmetalents mit dem Teufel im Bunde, dem er dafür - wie einst Goethes Faust für Jugend und Erkenntnisgewinn - seine Seele verkaufte. Letztlich geht es um die alte Frage, wie die Welt und ihre Beschaffenheit zwischen Leid und Freude, Leben und Tod im 21. Jahrhundert zu erklären ist. Und vielleicht um den Sinn des Lebens in Zeiten spirituellen Scheiterns. Wie wäre es – jetzt zur Urlaubszeit – daher mit einer kleinen Reise nach Genf?