Dunkle Materie: Die üblichen Verdächtigen
Der pragmatische Ansatz ist, zu fragen, ob man wirklich alle Materie richtig gezählt hat. Nur weil man sie nicht mit existierenden Teleskopen sieht, muss es nicht zwangsläufig bedeuten, dass sich nicht doch ausgebrannte Sterne oder nicht leuchtende Planeten aus völlig normaler Materie verstecken. Man spricht hier auch von sogenannten MACHOs — Massive Compact Halo Objects — die nicht selbst leuchten, jedoch genug Masse besitzen könnten, um die beobachteten Effekte zu erklären. Erst vor kurzer Zeit wurde beispielsweise entdeckt, dass die Bahnen transneptunischer Himmelskörper ein Verhalten in ihrer Umlaufbahn zeigen, das auf einen zusätzlichen, weit von der Sonne entfernten Planeten in unserem System hindeutet. Auch diesen können wir aktuell nicht sehen, obwohl er aus normaler Materie bestehen würde.
Doch diese Idee musste bald wieder verworfen werden. Denn es gibt eine Möglichkeit, die Anzahl dieser MACHOs abzuschätzen: Ziehen diese vor einem Stern oder einer Galaxie vorbei, ändert sich die scheinbare Helligkeit dieser Lichtquelle messbar. Es stellt sich heraus, dass man viel häufiger eine solche Helligkeitsänderung an den beobachteten Objekten sehen müsste, als man es tatsächlich misst.
Einen entscheidenden Hinweis auf die Natur der Dunklen Materie trägt zudem ein Blick in den kosmischen Mikrowellenhintergrund bei. Aus diesem wird deutlich, dass Dunkle Materie nicht aus Protonen und Elektronen bestehen kann. Wäre dies der Fall, so würde das Foto, das man aus der Frühphase des Universums durch die Hintergrundstrahlung erhält, völlig anders aussehen. Man beobachtet, dass Teilchen für die Bildung der Muster im Kosmos verantwortlich gewesen sein müssen, die kaum Wechselwirkung miteinander gehabt hatten und sich schon in der Frühphase des Universums bis auf die Gravitation ungestört bewegen konnten. Da Protonen und Elektronen in den ersten 380.000 Jahren noch als freie geladene Teilchen existierten, wäre die Strukturbildung des Kosmos anders verlaufen. Es muss zudem irgendetwas dagewesen sein, das die gravitative Grundstruktur des Universums gebildet hat. Die Protonen und Elektronen sind daraufhin der starken Anziehung dieser unbekannten Masse gefolgt.
Aber wir kennen schon ein Teilchen, dessen Charakter gleich der gesuchten Dunklen Materie ist: Das Neutrino. Kann dieses Teilchen vielleicht das Problem der fehlenden Masse lösen?
Neutrinos sind neben Protonen, Neutronen und Elektronen die vierte Teilchensorte im Standardmodell der Teilchenphysik. Immer, wenn Protonen und Neutronen ineinander umgewandelt werden, wie zum Beispiel nach einer Kernspaltung oder bei der Kernfusion, entstehen zudem Neutrinos. Die Idee zu diesen Teilchen entstand 1930 als Ausweg zu einem damals physikalischen Problem, als man eine Verletzung der Energie- und Impulserhaltung in den Prozessen der sogenannten Schwachen Wechselwirkung sah und schon in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden Neutrinos nachgewiesen. Zudem haben sie keine elektrische Ladung und können nur über die Gravitation und die Schwache Wechselwirkung mit anderer Materie interagieren. Des Weiteren ist das Neutrino (knapp hinter den Photonen) das zweitmeiste Teilchen im gesamten Universum. Es passt also eigentlich hervorragend als Kandidat für die Dunkle Materie.
Jedoch sind Neutrinos sehr leicht — haben also fast keine Masse - und genau das ist ein starkes Gegenargument. Zum einen reicht die Masse aller Neutrinos zusammen nach unserem heutigen Wissensstand nicht aus, um selbst bei ihrer hohen Anzahl die gemessene Schwerkraft zu erzeugen. Zum anderen sind sie durch ihre geringe Masse auch nahezu mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs. Solch schnelle Teilchen eignen sich nicht als Ankerpunkt für eine Strukturbildung im Universum, in der sich die Materie zu Galaxien und Galaxienhaufen zusammenklumpen muss.
Keines der Teilchen, mit denen man die Physik bisher vollständig erklären konnte, kommt also in Frage. Doch die Wissenschaftler haben heute Möglichkeiten, auch in dieses neue Gebiet der Physik vorzudringen.