Ultraschneller Katzenbuckel

Ultraschneller Katzenbuckel

10. Juli 2018 | von Thorsten Naeser

Die Fähigkeit zu sehen verdanken wir dem Molekül Retinal. In der Netzhaut der Augen stößt Retinal den Sehvorgang an, wenn es unter Lichteinfluss seine Form verändert. In ähnlicher Weise nutzen auch Bakterien diese Reaktion, um Protonen oder Ionen durch die Zellmembran zu pumpen. Die Lichtenergie kann dabei gespeichert werden, sodass sie als biologischer Treibstoff zur Verfügung steht. Das Retinal-Molekül ist in Proteine eingebettet, die bei der Steuerung des Vorgangs eine wichtige Rolle spielen. Die von den Proteinen gelenkte Reaktion des Retinals zählt zu den schnellsten biologischen Prozessen. Sie geschieht innerhalb von 500 Femtosekunden (eine Femtosekunde ist ein Millionstel einer milliardstel Sekunde). Was dabei auf Ebene der Atome passiert, haben Forscher des Paul Scherrer Instituts (PSI) erstmals in einem Film zusammengestellt. „So schnell und so genau hat noch niemand ein Retinalprotein gemessen“, sagt Jörg Standfuss, der die Gruppe für zeitaufgelöste Kristallografie im Bereich Biologie und Chemie am PSI leitet.

Die Forscher untersuchten das Protein Bacteriorhodopsin, das in einfachen Mikroben vorkommt. Fängt das im Bacteriorhodopsin eingebettete Retinal-Molekül ein Lichtteilchen ein, so verändert es seine ursprünglich gestreckte in eine gekrümmte Form. „Ähnlich, wie wenn eine Katze einen Buckel macht“, erklärt Standfuss. Solche Veränderungen lassen sich auch beobachten, wenn das Retinal in einer Lösung ohne Protein untersucht wird. „Proteine gleichen Fabriken, in denen chemische Reaktionen besonders effizient ablaufen“, sagt Standfuss weiter. „Wir wollten schauen, wie dieses Zusammenspiel zwischen Protein und Molekül funktioniert.“

Chamäleon

Die Forscher entdeckten, dass Wassermoleküle in der Nähe des Retinals eine entscheidende Rolle spielen. Sie beobachteten, wie sich die Wassermoleküle zur Seite bewegten und damit Platz schafften, damit das Retinal-Molekül seinen Katzenbuckel machen konnte. Was zuvor noch niemand gesehen hatte, überraschte Jörg Standfuss, wie er anhand des Katzenvergleichs erklärt: „Man erwartet, dass eine Katze einen Buckel macht und damit eine andere in die Flucht schlägt. Doch hier läuft die zweite Katze weg, noch bevor die erste ihren Buckel gemacht hat.“ Computersimulationen bestätigen die Messungen, die sich durch ultraschnelle Quantenprozesse erklären lassen.

Neben der Reaktion des Retinals konnten die Forscher zudem Protein-Beben nachweisen. Denn nicht die gesamte Lichtenergie, die auf das Protein fällt, wird für den Katzenbuckel gebraucht. Überschüssige Energie wird offenbar nicht in Form von Wärme, sondern in Vibrationen des Proteins freigesetzt.

Für ihre Aufnahmen reisten die PSI-Forscher nach Kalifornien zum Freie-Elektronen-Röntgenlaser LCLS in Stanford. Künftig können sie solche Filme direkt am PSI mit der neu in Betrieb genommenen Anlage SwissFEL realisieren. Bei solchen Untersuchungen wird die Probe mit extrem kurzen und intensiven Blitzen aus Röntgenlicht in Laserqualität durchleuchtet. Die Röntgenstrahlen werden durch die Probe in verschiedene Richtungen abgelenkt und erzeugen Beugungsmuster, aus denen sich die ursprüngliche Struktur berechnen lässt.

Als Proben verwenden die Forscher winzige Kristalle, in denen das Bacteriorhodopsin in einem geordneten Zustand dicht gepackt ist. Angeregt wird der Lichtsensor im Bacteriorhodopsin durch einen kurzen Puls aus einem optischen Laser. Danach trifft der Röntgenblitz den Kristall und beleuchtet die Szene. Die Zeit zwischen optischem Signal und Röntgenblitz bestimmt, wie weit die Reaktion fortgeschritten ist. Einzelne Schnappschüsse zu verschiedenen Zeitpunkten lassen sich dann zu einem Film zusammenfügen.

Nun wollen die Forscher mit dem SwissFEL das Retinal im Rhodopsin in unseren Augen untersuchen. Ähnliche Retinalproteine lassen sich aber auch in Nervenzellen künstlich einbauen. Damit könnte man Nervenzellen mit Licht gezielt aktivieren und deren Funktion erforschen. „Mit den Retinal-Proteinen könnte man so eine beliebige Region im Gehirn mit Licht aktivieren“, erklärt Jörg Standfuss ein Ziel des neuen Fachgebiets Optogenetik.

 

Text basierend auf einer Medienmitteilung des PSI

 

Originalveröffentlichung:

Retinal isomerization in bacteriorhodopsin captured by a femtosecond X-ray Free Electron laser; Nogly P., et al. Science, 14 June 2018 (online);

DOI: dx.doi.org/10.1126/science.aat0094